Ein Hausnotrufdienst handelte nur sehr zögerlich, als ein älterer Mann die Notruftaste betätigte. Erst nach Tagen wurde der Mann in eine Klinik eingeliefert. Dort wurde ein Schlaganfall diagnostiziert. Vor Gericht geht es um Schadensersatz und Schmerzensgeld. Grundsätzlich muss der klagende Mann beweisen, dass der Schaden auf eine Pflichtverletzung des Hausnotrufdienstes zurückgeht. Doch dieser verteidigt sich: Die schwerwiegenden Folgen des Schlaganfalls wären auch bei rechtzeitiger Hinzuziehung eines Rettungsdienstes eingetreten. Der Bundesgerichtshof hat nun gestern entschieden, wer hier die Beweislast trägt.
Kläger bleibt zwei Tage ohne Hilfe
Am 9. April 2012 betätigte der Kläger den Notruf zur Zentrale des Notrufdienstes. Der den Anruf entgegennehmende Mitarbeiter vernahm minutenlang lediglich ein Stöhnen. Mehrere Versuche, den Kläger telefonisch zu erreichen, scheiterten. Der Notrufdienst veranlasste daraufhin, dass ein Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes sich zu der Wohnung des Klägers begab. Der Mitarbeiter fand den 78-jährigen Mann am Boden liegend vor, konnte ihn jedoch wegen Übergewichts nicht aufzurichten. Nach Hinzuziehung eines weiteren Bediensteten der Streithelferin konnte der Kläger schließlich mit vereinten Kräften auf eine Couch gesetzt werden. Sodann ließen ihn die beiden Angestellten allein in der Wohnung zurück, ohne eine ärztliche Versorgung zu veranlassen.
Am 11. April 2012 wurde der Kläger von Angehörigen des ihn versorgenden Pflegedienstes in der Wohnung liegend aufgefunden und mit einer Halbseitenlähmung sowie einer Aphasie (Sprachstörung) in eine Klinik eingeliefert. Dort wurde ein nicht mehr ganz frischer, wahrscheinlich ein bis drei Tage zurückliegender Schlaganfall diagnostiziert.
Der Kläger hat behauptet, er habe gegen Mittag des 9. April 2012 einen Schlaganfall erlitten. Dessen gravierende Folgen wären vermieden worden, wenn der den Notruf entgegennehmende Mitarbeiter des Hausnotrufdienstes einen Rettungswagen mit medizinisch qualifizierten Rettungskräften geschickt hätte.
Keine „angemessene Hilfeleistung“
Bei dem Hausnotrufvertrag handelt es sich um einen Dienstvertrag im Sinne des § 611 BGB. Der Beklagte schuldete keinen Erfolg etwaiger Rettungsmaßnahmen. Er war allerdings verpflichtet, unverzüglich eine angemessene Hilfeleistung zu vermitteln.
Im konkreten Fall sahen die obersten Bundesrichter einen akuten medizinischen Notfall. Aufgrund der Betätigung der Notruftaste und des Verhaltens des Klägers nach Annahme des Rufs in der Zentrale des Notrufdienstes war deutlich, dass medizinische Hilfe benötigt wurde. Der Kläger war zu einer verständlichen Artikulation offensichtlich nicht mehr in der Lage, so dass der Mitarbeiter des Notrufdienstes minutenlang nur noch ein Stöhnen wahrnahm. Versuche, ihn telefonisch zu erreichen, scheiterten mehrfach.
Aus dem Erhebungsbogen zu dem Notrufvertrag war den Bediensteten des Notrufdienstes bekannt, dass der 78-jährige Kläger an schwerwiegenden, mit Folgerisiken verbundenen Vorerkrankungen litt. In einer dermaßen dramatischen Situation stellte die Entsendung eines medizinisch nicht geschulten, lediglich in Erster Hilfe ausgebildeten Mitarbeiters eines Sicherheitsdienstes zur Abklärung der Situation keine „angemessene Hilfeleistung“ im Sinne des Hausnotrufvertrags dar.
Bei groben Fehlern: Beweislastumkehr
Der Bundesgerichtshof erläutert zur Beweislast: Grundsätzlich trägt diese der Geschädigte – und zwar für die Pflichtverletzung, die Schadensentstehung und den Ursachenzusammenhang zwischen Pflichtverletzung und Schaden.
Im Arzthaftungsrecht führt allerdings ein grober Behandlungsfehler, der geeignet ist, einen Schaden der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen, regelmäßig zur Umkehr der objektiven Beweislast für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem Gesundheitsschaden. Wegen der Vergleichbarkeit der Interessenlage gilt dies entsprechend bei grober Verletzung sonstiger Berufs- oder Organisationspflichten, sofern diese, ähnlich wie beim Arztberuf, dem Schutz von Leben und Gesundheit anderer dienen. Der Bundesgerichtshof hatte keine Bedenken, diese Beweisgrundsätze auf den vorliegenden Fall anzuwenden.
Der von dem Dienstleister angebotene Hausnotrufvertrag bezweckte in erster Linie den Schutz von Leben und Gesundheit der zumeist älteren und pflegebedürftigen Teilnehmer. Der den Notruf entgegennehmende Mitarbeiter des Hausnotrufdienstes hat die diesem obliegenden vertraglichen Schutz- und Organisationspflichten grob verletzt. Durch diese Nachlässigkeit wurden erhebliche Aufklärungserschwernisse in das Geschehen hineingetragen. Die Beweissituation ist für den Kläger gerade dadurch erheblich verschlechtert worden, dass der Beklagte gegen die ihm nach dem Hausnotrufvertrag obliegenden Kardinalpflichten gravierend verstoßen hat und der Kläger infolgedessen bis zur Einlieferung in die Klinik am 11. April 2012 gänzlich unversorgt allein in seiner Wohnung lag.
Das Verfahren geht nun an das Berliner Kammergericht zurück. Das muss erneut entscheiden und dabei die geänderte Beweislage berücksichtigen. Jetzt muss der Hausnotrufdienst beweisen, dass der Gesundheitsschaden auch dann entstanden wäre, wenn er zügiger gehandelt hätte.
Referenz: Urteil des Bundesgerichtshofs vom 11.5.2017, Az. III ZR 92/16
Quelle: Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs vom 11.5.2017